Ich habe Weihnachten dieses Jahr vorgezogen. Auf Ende Januar. Nicht weil Ende Januar so viel Schnee lag, wie auch immer noch, zum offiziellen Frühlingsanfang, so viel Schnee liegt, dass schon der Gedanke daran, über das Weiß eine feierliche Stimmung zu legen, den Winter erträglicher machte. Obwohl es das auch tat. Sondern weil ich im Dezember gar nicht erst in diese Stimmung gekommen war, ich war zu sehr damit beschäftigt, unter einer Decke zu liegen und mich vor der Welt zu vergraben. Auch, weil ich am 24. Dezember in Spanien war und nicht in Dänemark, wo meine Familie seit Jahrzehnten Weihnachten feiert. Dem letzten Jahr fehlte einfach etwas.
Meine Großeltern sind vor 20 Jahren nach Spanien gezogen und zum ersten Mal konnten sie zu Weihnachten nicht nach Norden reisen. Also sind wir zu ihnen geflogen. Es war schön, dort bei ihnen zu sein. Schöner, als ich es bei aller Ungewohntheit erwartet hatte. Und vielleicht lag es ja daran, dass die Feiertage nicht so verlässlich gleich waren wie jedes Jahr. Daran, dass mir schlagartig bewusst wurde, dass meine Großeltern älter werden. Das mag merkwürdig klingen, aber aus meiner Perspektive waren sie immer gleich alt. Im Großelternalter eben. Eine feste Größe, egal, wie viel erwachsener ich wurde. Als ich am 23. Dezember bei meiner Großmutter, meiner Mormor Inge, in der Küche saß, während sie die ersten Vorbereitungen für das Essen am Heiligabend machte, wurde mir plötzlich auch klar, dass ich seit 33 Jahren darauf vertraue, dass an Weihnachten das gleiche serviert wird – und ich keinen Schimmer habe, wie Mormor und meine Mama es zubereiten. Also habe ich beschlossen, mich am 24. neben meine Mormor an den Herd zu stellen und mir beibringen zu lassen, wie man ein dänisches Weihnachtsessen kocht, mit Truthahn, Rotkohl und Risalamande zum Dessert, und es im Januar noch einmal zu machen, für meine Liebsten in Berlin. Meine andere Familie.
Ich weiß nicht, wie gut ich meine Nervosität verbergen konnte als Mormor mir beim Kochen dabei zusah, wie ich Handgriffe kopierte, die sie seit Jahrzehnten perfektioniert hatte. Falls sie sich über meine amateurhaften Fragen gewundert hat – Noch mal, warum muss man den Truthahn wenden? – ließ sie sich nichts anmerken. Die meiste Zeit saß ich einfach dort und habe versucht, etwas zu lernen, indem ich ihr zusah. So, wie ich versucht habe, mir so vieles andere von ihr abzuschauen. Ihre Warmherzigkeit. Ihre Neugier. Ihre Entschlossenheit, immer das Gute zu sehen. Ihr ebenso umwerfender Optimismus, auch dem Schlechten direkt ins Gesicht zu blicken. Ihr Können, gute Geschichte zu erzählen. Ihr Talent für die Pointe. Ihr großer Stil. All das macht sie zu einer wunderbaren Frau. Und zu einer ziemlich perfekten Gastgeberin.
Ein großes Vorbild, wenn man zehn Leute zum Essen einlädt und alle zehn zusagen. Ich habe die Panik ignoriert und mich stattdessen auf ein weiteres Talent meiner Mormor konzentriert: immer die Ruhe bewahren. Und dann habe ich einen sechs Kilo schweren Truthahn ausgenommen, gewaschen und vernäht. Falls ihr so etwas mit links machen würdet, Respekt. Ich hatte das Gefühl, ich stehe kurz vor einer OP – als Patient, nicht als Arzt. Nachher hat meine Freundin Steffi gesagt, die mir an dem Tag geholfen hat und drei Töpfe Rotkohl geschnitten hat als wäre sie in einer Folge „Master Chef“, ich habe furchtlos ausgesehen. Furchtlos – so wirkte meine Mormor in der Küche auch. Etwas hatte ich mir also doch abgeschaut. Im Laufe des Abends habe ich noch gelernt, warum sie schon während des Kochens oft das erste Glas Rotwein trinkt. Als der Truthahn tatsächlich im Ofen war, habe ich mir das zweite eingeschenkt. Ich weiß jetzt, dass man als Köchin das Gefühl hat, nicht genug bei den Gästen zu sein und dass es trotzdem kaum ein schöneres Gefühl gibt, als aus Küche zu hören, wie im anderen Zimmer Geschichten erzählt und gelacht wird. Ich weiß, das ich keinen Schiss haben muss, eine Gastgeberin zu sein, denn den hatte ich. Wird alles perfekt? Werden sich alle verstehen? Warum klumpt die verdammte Soße? Keine Angst. Es ist egal, ob alle Teller zusammenpassen, der Rotwein aus Milchgläsern getrunken wird und es um den Tisch ein bisschen eng wird, wenn man am nächsten Morgen aufwacht und vor diesem schön eingesauten Tisch steht, um den am Abend zuvor zehn Menschen saßen, die einem wichtig sind. Dass sie mir das beigebracht hat, ist vielleicht das größte Geschenk, das Mormor mir machen konnte. Zu Weihnachten. Und zu jedem einzelnen anderen Tag im Jahr.
P.S. Das sind meine Großeltern an ihrem Hochzeitstag auf dem Bild oben. Sie sind, wenn man das glauben kann, seit fast 60 Jahren verheiratet. Auch darüber kann man also etwas von ihnen lernen.
13 Kommentare
sidsel
you brought tears to my eyes. love this one. X
Marlene
Thank you, love. Come round for a sandwich? I still have some of that turkey in the freezer… x
Isabell
Ach, Marlene,
wie schön du über deine Mormor schreibst! Mir wird ganz warm.
Es war bestimmt ein toller Weihnachtsabend im Januar!
Liebe Grüße, Isabell
Marlene
Und Wärme kann man in diesen Tagen sehr gut gebrauchen. Aber, im Ernst, dank Dir! Dann hab ich’s geschafft, sie so zu beschreiben wie sie auch auf mich wirkt. Weihnachten wird ab jetzt einfach zwei Mal gefeiert. Mit dem Rest vom Truthahn, der im Gefrierfach liegt, komm ich sicher bis Dezember durch… Schönes Wochenende, du Liebe!
Teresa
Liebe Marlene, dein Post treibt mir die Tränen in die Augen. Weil mir klar wird, wie schön es ist, seinen Großeltern nah zu sein. Und wie vergänglich.
Ich liebe deine Kolumnen, die ich noch aus der Maxi kenne. Jetzt werde ich neuer Fan deines Blogs.
Liebe Grüße,
Teresa
Marlene
Liebe Teresa, ich überlege jetzt schon seit einer ganzen Weile, was ich darauf antworten kann, aber mir fällt einfach nichts besseres ein als ein riesengroßes Dankeschön, von Herzen. Alles Liebe, Marlene
Marleen
Marlene, ich seh‘ dich gerade in Zara-, ähm Prada-Pumps, mit dem Blick deiner Großmutter im Nacken, am Herd stehend. So schön geschrieben.
Ich versuche mich auch dosiert an den ehrenwürdigen Familienrezepten meiner Großmama, damit ich nicht irgendwann auf den Butterkuchen verzichten muss. Meine Mutter ist nämlich anti-back.
Love! Marleen
Marlene
Ja, das würde meiner Mormor gefallen. Von ihr kommt auch eines meiner Lieblingsrezepte für Süßes, Æbleskiver heißt die Leckerei. Müsste ich dringend mal wieder machen. Ich hätte auch nichts gegen ein gutes Rezept für Butterkuchen. Tauschen wir?
Marleen
Unbedingt!
alma
vor mir. bildlich
du kannst das auch gut, geschichten erzählen. und den tisch schön decken.
Marlene
Ach Danke, liebe Alma. Das macht mich jetzt ein bisschen stolz. Und meine Oma auch.
alma
ja, das darf es auch.
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